Was wäre die Welt ohne Wunschdenken?

(11.02.2015) 

© Elfride Stehle (Eine Kurzgeschichte, erzählt mit einem Augenzwinkern)

 

 

Mittwoch

Ich freue mich wie verrückt, denn heute kommt meine Enkeltochter zu uns. Für vier Tage. Sie hat, wie tausende andere sächsische Schüler, Winterferien. Wenn auch rein gar nichts, nicht mal ein Krümelchen Schnee auf Winter hindeutet, kalt ist es allemal. Doch ich vermisse den Schnee nicht. Will weder rodeln noch Ski fahren. Auch Emily sieht lieber fern. Und sie malt gerne. Aber darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken, denn bis zur Ankunft meiner Enkelin ist noch allerhand vorzubereiten...

 

 

 

                                                     Am Abend des gleichen Tages

„Gute Nacht Oma, ich hab dich sooo lieb.“ Ich umarme meine Enkeltochter, flüstere ihr zu, dass ich sie auch ganz doll lieb habe, und bin kurz vorm Einschlafen, als ich höre: „Oma, schläfst du schon…?“

„Nein, mein Schatz, was hast du denn?“, dabei drehe ich mich im Bett zu ihr um, und sie erzählt mir von ihrem Projekttag mit einem Blindenhund. Etwas traurig macht es mich, als sie sagt:

„Wegen meiner Tierhaarallergie durfte ich daran nicht teilnehmen.“ Ich bin schlagartig wach, setze mich auf und mache die Nachttischlampe an: „Aber warum denn nicht!?“

„Keine Ahnung“, sagt Emily nur.

„Und, was hast du stattdessen gemacht?“, frage ich weiter.

„Ich musste in eine andere Klasse, die hatten Matheunterricht. Mag ich nicht so“, brummelt die Kleine.

„Hmm, ist schon klar, irgendwo musstest du ja sein, während deine Mitschüler alles über Blindenführhunde erfuhren, aber…“, ich überlege kurz, „aber, haben dich danach deine Lehrerin oder deine Schulfreunde wenigstens über den Projekttag informiert?“

Meine Enkeltochter schüttelt nur betrübt den Kopf.

Ungewöhnlich, denke ich für mich. Aber dann kommt mir eine Idee. „Weißt du was? Nein? Wir schreiben morgen gemeinsam eine Geschichte darüber.“

„Aber ich war doch gar nicht dabei, ich weiß doch gar nichts“, wendet Emily ein. Da antworte ich verschmitzt: „Wozu gibt es das Internet?“ Die Kleine nickt erfreut und sagt: „Ja Oma, dann machen wir das, und ich male Bilder dazu.“

„Eine geniale Idee“, meine ich grinsend und gebe ihr ein Küsschen. Dann lösche ich das Licht, drehe mich auf die Seite und sage mit müder Stimme: „Schlafe schön, meine Maus.“

„Du auch, Oma.“

 

 

 

 

Donnerstag

Am nächsten Morgen werden wir von Opa geweckt. Kaffeeduft steigt mir in die Nase. Auch Emily freut sich auf unser gemeinsames Frühstück, denn bei Oma und Opa gibt es immer besondere Sachen, jedenfalls andere, als zuhause. Bisher war immer Pflaumenmus das Highlight meiner Enkelin. Diesmal hat es ihr der Honig angetan. Der ist so schön cremig.

Gleich nach dem leckeren Frühstück wollen wir unsere gestrige tolle Idee in die Tat umsetzen, nämlich, eine Geschichte über den Projekttag schreiben. Am einfachsten wäre es, wenn ich das Schreiben übernehmen würde. Am einfachsten für mich, wohlbemerkt. Nur ist das nicht im  Sinne des Erfinders. Emily ist nicht bei uns, um sich zu langweilen. Also setze ich mich an den Computer und schreibe Ein Blindenhund sorgt für Aufregung.

„So mein Schatz, die Überschrift hätten wir schon mal.“

Um meine Enkeltochter in das Schreiben mit einzubeziehen, stelle ich ihr hin und wieder Fragen. So frage ich unter anderem, welchen Namen sie der Lehrerin und den Mitschülern geben würde. So vermeiden wir, dass die Originalnamen der handelnden Personen in der Geschichte erscheinen. Gerade, wenn es sich um realitätsnahe Geschichten handelt, macht das Sinn, erkläre ich meinem Enkelkind. Ich merke, mit welchem Eifer und welcher Freude sie bei der Sache ist. Kaum bin ich an der Textstelle, wo die Kinder von Paulas Tierhaarallergie erfahren, springt Emily auf und offenbart mir, dazu ein Bild malen zu wollen. Dieses Bild zeigt Paula mit einem Hund. Durch mein Lob angespornt entstehen noch weitere schöne, zum Text passende Bilder, die ich dann alle in die Geschichte einfüge. So haben wir beide zu tun und merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. Im Nu ist Mittag. Wir genießen das, von Opa gezauberte, Essen. Auch danach sind wir nicht zu bremsen, und  am späten Nachmittag ist unser Werk endlich fertig. Sechs Seiten, die sich sehen lassen können.

Meine Enkelin hat „Blut geleckt“, denn nun will sie ihre erste eigene Geschichte schreiben. Das gefällt mir. Die Vorstellung, dass eines meiner Enkelkinder mal in meine Fußstapfen treten könnte, macht mich irgendwie glücklich. Emily beginnt auch sofort mit dem Schreiben, aber irgendwann lockt doch der Fernseher. Ich denke, mein Gott, sie war den ganzen Tag mit einer bewundernswerten Ausdauer bei der Sache, und das mit neun Jahren. Außerdem hat sie Ferien. Das sollte man nicht vergessen.

Eine Stunde später rufe Ich dann: „Emily, Abendbrot!“

„Ja Oma, ich komme.“

Abends im Bett überlegen Emily und ich, wie ihre Geschichte weiter gehen kann. Dass sie unbedingt  schreiben will, macht sie mir klar. Sie schnattert und schnattert, doch mit einem Mal ist Ruhe. Meine Enkeltochter ist eingeschlafen.

 

 

 

 

Freitag

Auch der dritte Ferientag vergeht wie im Fluge. Emily schreibt emsig an ihrer Geschichte „Ein kleiner Hund namens Bello“.

Ich bin erstaunt, aber auch erfreut, dass sie kaum Rechtschreibfehler macht. Sicher verdankt sie das ihrem Interesse fürs Lesen, vermute ich. Immerhin ist sie in ihrer Klasse die beste Leserin, wie sie mir stolz berichtet hat.

Zwischendurch sieht Emily fern, und dann, nach dem Mittagessen, machen wir  alle Drei bei herrlichstem Sonnenschein einen Spaziergang. Die frische Luft tut gut.

Kaum wieder zuhause, malt Emily ein Bild für ihre Mama zum morgigen Valentinstag. Ein Pferdebild, versteht sich. Meine Enkeltochter ist, wie ihre Mama, ein Pferdenarr. Und das Pferd auf dem Bild ist auch als ein solches zu erkennen…

 

Ich backe etwas später noch einen Kuchen, auch zum Valentinstag, aber auch, weil  Emilys Eltern morgen zum Kaffee kommen, um anschließend ihr Töchterlein wieder mit nach Hause zu nehmen.

Vom Kuchenduft angelockt kommt meine Enkelin neugierig  in die Küche. „Hmmm, der Papageienkuchen sieht lecker aus, Oma!“, ruft sie und klatscht vor Freude in die Hände. Ich weiß, es ist ihr Lieblingskuchen. Und natürlich müssen wir den auch gleich kosten – das ist Ehrensache.

 

 

 

 

Samstag

Auch heute versucht sich meine Enkelin an ihren Schreibkünsten. Wieder staune ich über ihre Ausdauer. Natürlich muss sie noch viel lernen. Aber je mehr sie schreibt, umso besser wird sie. Das steht für mich fest, wie das Amen in der Kirche.

 

Inzwischen ist es 15 Uhr. Die Kaffeemaschine brodelt vor sich hin,  der Kuchen liegt schon geschnitten auf der Tortenplatte, und meine Enkeltochter hat gerade das Kaffeegeschirr auf dem Tisch verteilt, als es klingelt.

„Ich mach auf“, ruft Emily und rennt zur Haustür. Fröhlich begrüßt sie Mama, Papa und ihren großen Bruder.

Gemütlich genießen wir bei Kaffee und Kuchen dieses seltene Familientreffen. Ich freue mich, dass allen der Papageienkuchen so gut schmeckt und gebe Emily ein Zeichen, indem ich ihr etwas ins Ohr flüstere. Stolz zeigt sie ihrer Mama unsere Schreibarbeit mit ihren Zeichnungen. Überrascht ergreift meine Tochter die Zettel und beginnt zu lesen…

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: pixabay
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…Als meine Tochter fertig ist mit lesen, legt sie die Blätter zur Seite, sieht mich nachdenklich an und sagt dann:

„Eine sehr schöne Geschichte, auch die Bilder gefallen mir sehr gut“, und sie lächelt ihre Tochter Emily an, „ ABER…“

Schöne Geschichte, denke ich, was jedoch soll dieses ABER?

„Aber“, sie macht erneut eine Pause, „aber Mutti, es ist reines Wunschdenken. Wo gibt es solche Lehrer, die so freundlich und lieb mit den Schülern umgehen? Wo findest du solche Schüler, die sich für andere interessieren und einsetzen? Wie gesagt, eine sehr schöne Geschichte, aber reines Wunschdenken.“

 

Ich überlege und antworte schließlich, mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern:

„Du hast schon Recht! Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Aber lassen wir die Geschichte doch so.

Denn, was wäre die Welt ohne Wunschdenken?


Nachwort

Nicht nur mir, sondern auch meiner Enkeltochter Emily, machte es großen Spaß, die Geschichte „Ein Blindenhund sorgt für Aufregung“ zu schreiben. Fast wie nebenbei, aber passend zum Text, entstanden die  Bilder, gemalt von Emily Stolle.

Die Ferientage vergingen wie im Fluge, aber die nächsten Ferien kommen bestimmt.