pixa bay
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Muttertagserinnerungen (Leseprobe)

Es ist ein warmer Sonntagnachmittag, der erste in diesem Wonnemonat Mai.  Doris Ritter genießt die Stille im Haus. Sie hat die Augen geschlossen und horcht auf das fröhliche Vogelgezwitscher, welches durch das gekippte Fenster zu ihr dringt. Seit dem Auszug ihres jüngsten Sohnes vor fünf Jahren ist es im Hause der Ritters ruhiger geworden. Doris sitzt im Schaukelstuhl ihrer Mutter, den sie genau neben die drei, bis zur Decke reichenden Bücherregale, gestellt hat. Diese Regale von IKEA sind prall mit Büchern verschiedener Genres gefüllt und drohen bald aus den Fugen zu krachen. Als „ihre Bibliothek“ bezeichnet Doris diesen Raum voller Stolz. Hier frönt sie, nun schon seit 2012, fast täglich ihrem Hobby, der Schriftstellerei. Wenn sie schreibt, dann beginnt sie gleich nach dem Frühstück damit. Und an manchen Tagen sitzt sie bis mittags am PC, um ein neues Gedicht oder eine Kurzgeschichte auf der Tastatur einzutippen. Neben etlichen Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien sind inzwischen auch zwei Bücher von ihr erschienen. Doris schüttelt mit einem Mal den Kopf, denn sie muss plötzlich an ihre Tochter denken. In bereits sechs Tagen hat Susann ihren sechsunddreißigsten Geburtstag, und nur ein Tag später ist schon Muttertag … Muttertag … Doris öffnet für einen Moment die Augen. Sie beginnt, mit dem Stuhl hin und her zu schaukeln und taucht allmählich immer tiefer in ihre Erinnerungen ein…

 

So entsinnt sie sich, dass der Muttertag in der ehemaligen DDR bis zur Wende gar nicht gefeiert wurde. Statt des Muttertags galt der Internationale Frauentag als Höhepunkt der DDR-Frauenpolitik. So oder so ähnlich las sie es bei Wikipedia. Und erst seit 1993 ist im vereinten Deutschland der 8. März wieder in den Focus gerückt, dank engagierter Frauen. Aber damals in der DDR bekamen am Internationalen Frauentag alle Frauen, auch die ganz jungen Kolleginnen in den Betrieben,  Blumen geschenkt. Von den Männern, versteht sich. Ganze Frauengruppen wurden, nach der Arbeit, mit Bussen zu Musikveranstaltungen kutschiert. Doris erinnert sich, einmal im Kulturhaus Bischofswerda dabei gewesen zu sein, und sie muss unwillkürlich grinsen. So, als wäre es gestern gewesen, sieht sie Peter, den Mann ihrer Kollegin und besten Freundin Birgit, noch heute unterm Tisch liegen. Normalerweise war er als Chauffeur gedacht. Da er aber blau wie ein Veilchen war, übernahm den Heimtransport kurzerhand seine Birgit, die wegen ihrer Schwangerschaft den ganzen Abend sowieso nur Selters getrunken hatte.

 

Aber vorher mussten wir, also Birgit,  Maria und ich, den sturzbetrunkenen Peter ins Auto hieven, was sich letztendlich als reinste Schwerstarbeit erwies, stöhnt Doris bei dieser Reminiszenz.

 

Ihr war lange nicht klar, wie Birgits Mann sich in nur zehn Minuten  so  betrinken konnte? Doch kürzlich erfuhr sie bei einem Treffen mit ihrer Freundin, dass Peter an dem besagten Frauentag vor lauter Glück, endlich Vater zu werden, schon leicht betütert in Bischofswerda eintraf.

 

Während Doris noch weitere Vergleiche zwischen Frauentag und Muttertag, zwischen Früher und heute anstellt, wird sie plötzlich von einem lauten Ton aus diesen Gedanken gerissen. Sie schlägt die Augen auf, bleibt aber noch einen Moment sitzen, um dann, wie ein junges Reh, die Holztreppe hinunter zu hüpfen. Und das mit ihren fast sechsundsechzig Jahren. Trotzdem gelingt es ihr nicht, das Telefon vor dem fünften Klingelton zu erreichen und den Hörer rechtzeitig abzuheben. Der AB war einfach schneller. Sie hört die Stimme ihrer Tochter: „Hallo Mutsch, nur ganz kurz – meine Geburtstagsfeier verschiebe ich auf den Sonntag. Hab dich lieb!“

 

Doris starrt völlig perplex auf den Telefonhörer, bevor ...

 

© Elfride Stehle